Die Coronakrise stellt uns vor Herausforderung, aber nicht vor neue Herausforderungen. Sie ist eine von vielen negativen Veränderungen auf unseren Planeten, die zeigt, dass der bisherige Weg unserer Wirtschaft weder von der Natur noch von den Menschen weiter getragen werden kann. Daher haben wir mit unserem Antrag “Innovativ und solidarisch durch die Coronakrise” die Transformationsfähigkeit der Stadtgesellschaft und Wirtschaft in den Mittelpunkt unseres Handelns gestellt.
Da unter Transformation recht unterschiedliche Dinge verstanden werden, möchte ich zunächst umreißen, was sie für uns Grüne bedeutet. Neben der im Moment stark im Fokus stehenden digitalen Transformation meinen wir damit vor allem die Transformation zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Stadtgesellschaft, die sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN orientiert. Dazu gehören der Umbau auf zu einer klimafreundlichen Stadt auf allen Ebenen sowie die soziale Nachhaltigkeit, die sich zum Beispiel in einer konsequenten Umsetzung von Armutsbekämpfung, Integration, Teilhabe, Diversität usw. ausdrückt.
Innovative und kreative Wirtschaftsförderung
Die in der Ratsversammlung vom 11.06.2020 veröffentlichte Geschäftliche Mitteilung (Drs.0495/2020) zur Transformationsfähigkeit der Kieler Wirtschaft gibt leider zu wenig her, um die Kernpunkte der Transformationsfähigkeit im Sinne unseres Antrages zu verstehen.
Richtig ist in jedem Fall, auf die immer stärker werdende Gründungsszene in Kiel zu setzen, die sich durch eine hohe Agilität und Anpassungsfähigkeit auszeichnet.
Zum Zweiten spielen auch die vier Kreativzentren Alte Mu, OpenCampus, Anscharpark und die Kreativwerft eine wesentliche Rolle bei der Transformationsfähigkeit. Als Knotenpunkt zwischen Hochschulen, Gründer*innen, Wirtschaft und Stadtgesellschaft sind sie zu Reallaboren geworden, in denen neue Perspektiven und Ideen entwickelt werden können. So zum Beispiel das soziale Unternehmertum (Alte Mu) oder der Transfer von Design und Kunst in die Wirtschaft (Anscharpark). Mit dieser Struktur hat sich Kiel ein echtes Alleinstellungsmerkmal geschaffen, das sich in der Krise ausgezahlt hat.
Einen weiteren Artikel zum Thema hat mein Kollege Dirk Scheelje geschrieben: https://gruene-kiel.de/home/home-single/article/209455/
Gewerbegebiete richtig planen
In der Vorlage fehlen jedoch viele Elemente, die es für eine erfolgreiche Transformationsfähigkeit der Wirtschaft braucht. Sie kann – zumindest bei der Digitalisierung – im ersten Schritt – aus der Digitalen Woche Kiel bestehen. Das reicht aber nicht aus. Sie muss sich z.B. auch in der Gestaltung von Gewerbegebieten niederschlagen. Grundsätzlich müssen alle Gewerbegebiete in Kiel so geplant werden, dass ein klimafreundliches, sozial nachhaltiges und modernes Wirtschaften und Arbeiten möglich ist.
Das bedeutet zum Beispiel:
- das Mitdenken von Velorouten und die Anbindung an den Nahverkehr
- die Integration von Faktoren wie Ökostrom, energetischem Bauen und Begrünung
- Kita-Angebote und andere elternfreundliche Strukturen
- das Mitdenken von Co-Working-Spaces, Fablabs oder InnoHubs, in denen ein einfacher Austausch zwischen Unternehmen und StartUps möglich ist
- usw.
Nur mit einem so ausgestalteten Gesamtkonzept können die Ansprüche an Innovationsfähigkeit, Klimafreundlichkeit, Arbeiten 4.0 und Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfüllt werden.
Transformation unterstützen
Desweiteren muss sich die Kieler Wirtschaftsförderung so ausrichten, dass alle Kernelemente der Transformation erfüllt werden können. Natürlich sind hier auch Land und Bund gefragt, deren Programme nahtlos in die der kommunalen Wirtschaftsförderung eingebunden werden müssen.
Wichtige Säulen der Transformation sind:
- Anpassungen der Prozesse und Infrastruktur
- Veränderung von Führung und Management
- Veränderung der Organisation (Agilität)
- Anpassungsfähigkeit der Geschäftsmodelle und Innovationsfähigkeit
- Kompetenzentwicklung beim Umgang mit Daten
- Weiterbildungsmöglichkeiten und interdisziplinäres Recruiting
- Entwicklung einer gemeinwohlorientierten Haltung
IT-Struktur und Industrie 4.0
Die Digitalisierung bietet viele Möglichkeiten, um Prozesse so umzugestalten, dass sie kosten- und energieeffizienter werden und sogar völlig neue Möglichkeiten eröffnen (z.B. Fernwartung von Maschinen durch Vernetzung, längere Laufzeiten durch Condition Monitoring). Zudem hat die Coronakrise gezeigt, dass auch die Umstellung in ein vorwiegend virtuelles Arbeitsfeld für viele Unternehmen noch eine Herausforderung darstellt. Hier ist das Bundeswirtschaftministerium im Sinne des Wissenschaftstransfers bereits tätig.
Neue Führung und agile Organisationsentwicklung
Die digitale Transformation, aber auch Diversität und Klimafreundlichkeit stellen neue Anforderung an das Management und die Art und Weise, wie Unternehmen organisatorisch aufgestellt sind. Gerade die Innovationsfähigkeit erfordert mehr Freiraum für Mitarbeitende, um Ideen entstehen zu lassen. Durch eine Veränderung der Organisationsstruktur können Unternehmen flexibler auf schnelle Veränderungen am Markt oder der Rahmenbedingungen reagieren. Für das Kennenlernen dieser neuen Arbeits- und Managementstrukturen kann Kiel Möglichkeitsräume wie zum Beispiel alternative Arbeitsumgebungen und Labore schaffen. Zudem müssen Themen wie Digital Leadership, agile Organisationsentwicklung und Arbeiten 4.0 sehr viel stärker in das Angebot der Digitalen Woche Kiel eingebunden werden.
Anpassung der Geschäftsmodelle
Besonders wichtig ist die Anpassung der Geschäftsmodelle. Hier muss auch die Politik mehr Mut beweisen. Alte Branchen und Produkte durch Subventionen am Leben zu erhalten, ist das falsche Signal, da es Unternehmen in falscher Sicherheit wiegt. Denn irgendwann – so geschehen mit der Autoindustrie (Tesla) oder beim Einzelhandel (Amazon) – können Neuentwicklungen eine solche Dynamik entwickeln, dass die fehlende Agilität und Transformationsfähigkeit der betroffenen Unternehmen zum Problem wird und Arbeitsplätze kostet. Daher muss die Kieler Wirtschaft für dieses Thema sensibilisiert und Formate wie InnovationsHubs integriert werden, in denen sie ihre Geschäftsmodelle reflektieren und ggf. neu ausrichten können bzw. ihre Innovationsfähigkeit steigern. Auch bei Neuansiedlungen sollte ein genauer Blick auf die Zukunftsfähigkeit der interessierten Unternehmen geworfen werden, um Risiken für den Wirtschaftsstandort Kiel zu minimieren.
Daten-Kompetenzen entwickeln
Nicht zuletzt brauchen wir sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik eine höhere Kompetenz im Umgang mit Daten. Datenanalyse, Visualisierung sowie die Investition in Künstliche Intelligenz müssen genauso selbstverständlich werden, wie der Aufbau einer Smart City. Denn Daten machen es den Unternehmen leichter möglich, Prognosen zu erstellen und Hemmnisse sowie Risiken zu erkennen, die ganz klar Wettbewerbsvorteile erbringen – und damit andere Marktteilnehmerinnen verdrängen können.
Gleichzeitig muss politisch über die ethischen Auswirkungen von Daten sowie datenbasierte Entscheidungen gesprochen werden, vor allem im Bezug auf die Rechte von Mitarbeitenden und Verbraucher*innen.
Lebenslanges Lernen
Immer mehr Menschen arbeiten zu Beginn ihres Berufsleben in einem anderen Beruf als am Ende. Auch diese Dynamik muss sich sowohl in den Weiterbildungsmöglichkeiten als auch bei den Karrierewege der Fachkräften in Kiel abbilden. Die Besetzung einer Führungsposition sollte nicht davon abhängig gemacht werden, ob jemand BWL studiert hat oder nicht. Stattdessen sollte auf die Ich-Entwicklung (postkonventionelles Denken) sowie weitere fachliche Kompetenzen geschaut werden. Für eine hohe Innovationsfähigkeit ist auch der Blick auf Quereinsteiger*innen und Querdenker*innen bei der Einstellung wichtig. Darum sollten hier Formate geschaffen werden, die Fachkräfte dabei unterstützt, einen Berufswechsel vorzunehmen.
Gemeinwohlökonomie
Jedes Instrument und jede Veränderung ist immer auch von der Haltung abhängig, die dahinter steckt. Wenn datenbasierte Entscheidungen nur unter dem Gesichtspunkt der Kosten betrachtet werden, so wird eine eher ausbeuterische Haltung gefördert. Daten bieten aber auch die Möglichkeit, gemeinwohlökonomische Faktoren wie Nachhaltigkeit, Arbeitnehmer*innenrechte, Diversität, Transparenz usw. besser in der Bepreisung von Produkten und Dienstleistung zu berücksichtigen. Auch eine Veränderung des Bilanzwesens in den Unternehmen gehört dazu.
Wir müssen uns fragen, wie wir die neuen Möglichkeiten nutzen wollen und wie heute noch übliche aber für die Gemeinschaft schädliche Geschäfte für die Unternehmen unattraktiver werden. Diese Haltung zu einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Ökonomie muss sich prinzipiell in jeder wirtschaftspolitischen Entscheidung widerspiegeln. Zudem sollte das Wissen um die Steuerungsinstrumente und Prinzipien der Gemeinwohlökonomie in die Stadtgesellschaft und Wirtschaft gespielt werden.
Fazit
Eine digitale und nachhaltige Transformation ist nur möglich, wenn wir bereit sind Veränderungen auf allen Ebenen zu zulassen und Raum für neues Denken zu schaffen. Ob die Corona-Krise es schafft, uns hier einen neuen Blick zu verschaffen, kann noch niemand sagen. In jedem Fall werden die Entwicklungen nicht einfach geschehen, sondern sind von unserem Gestaltungswillen und unserer Reflexionsfähigkeit abhängig. An diesem Anspruch müssen wir uns alle messen.
Bild: Jasmin Sessler on Unsplash