Am 20. Januar 2020 feierte die Grüne Ratsfraktion ihren traditionellen Jahresempfang im Kieler Rathaus. Hier könnt ihr noch einmal meine Rede über Gerechtigkeit, Verantwortung und Freiheit nachlesen.
Sehr geehrte Mitmenschen, liebe Amina,
Im Namen der Grünen Ratsfraktion freue ich mich, dich Amina und euch liebe Gäste auf unserem diesjährigen Jahresempfang begrüßen zu dürfen.
Ein ereignisreiches Jahr 2019 liegt hinter uns, in dem die grüne Ratsfraktion zusammen mit der Kooperation viel auf die Bahn geschoben hat.
Wir haben die gendergerechte Sprache in der Verwaltung, ein Konzept für innovative Schulneubauten und Geld für Vorgängerprojekte des Meeresvisualisierungszentrum beschlossen. Wir haben in Kiel den Climate Emergency ausgerufen und treiben damit den Klimaschutz in Kiel weiter voran. Wir haben das Filmfest Schleswig-Holstein gerettet. HAKI e.V. und damit die queere Szene in Kiel wird nun endlich angemessen von der Stadt unterstützt. Außerdem zu nennen sind 18 Blühwiesen, 500 Fahrradbügel für Schulen, Förderung für legale Graffiti-Flächen und Streetart, Verbesserung der Kinder- und Jugendbeteiligung, ein eSport-Zentrum, Barrierefreiheit in den Museen, Erleichterung beim sozialen Wohnungsbau und ein Kieler Woche Feuerwerk, das moderner und nachhaltiger gestaltet werden soll.
An dieser Stelle möchte ich mich für die hervorragende Arbeit meiner Fraktion und unseren Kooperationspartnerinnen herzlich bedanken.
Aminata Toure wird im Anschluss über „Grüne Verantwortung“ sprechen. Ich möchte zur Einleitung das Feld noch etwas größer aufspannen und möchte über Gerechtigkeit sprechen. Ich möchte über Freiheit und Diskurs reden.
Gerechtigkeit. Was bedeutet Gerechtigkeit? Für jeden von uns persönlich? Und vor allem für uns als Gesellschaft? Seit der Antike setzen wir uns mit Gerechtigkeit auseinander. Sie schlägt sich nieder in unseren Verfassungen, den Menschenrechtskonventionen, im Recht, der Kultur, der Religion und in fast allen Parteiprogrammen. Gerechtigkeit ist der Grundstoff, der Antrieb, nach wir seit Menschengedenken streben. Es ist uns ein Anliegen, gerecht zu sein, Gerechtigkeit zwischen uns herzustellen.
In unseren Kinofilmen, Romanen, Geschichten geht es oft um nichts anderes, als dass der Gerechte über das Unrecht siegt. Ungerechte Schiedsrichterentscheidungen werden zu Legenden der Fußballgeschichte. Und aktuell wird der Wombat im Internet gefeiert, weil er anderen Spezies Unterschlupf in seinen Höhlen gewährt hat, damit sie sich vor den Buschfeuer retten konnten. Der gerechte Wombat ist der Held unserer Zeit.
Doch viel zu oft wird die Gerechtigkeit mit Selbstgerechtigkeit verwechselt. Denn Gerechtigkeit und ihre Schwester, die Freiheit, werden zur Selbstgerechtigkeit, wenn sie von gesellschaftlicher Verantwortung entkoppelt sind.
Wir erleben es täglich in unseren öffentlichen Debatten. Es geht selten um gesellschaftliche Verantwortung und sehr oft um das Individuen, dessen Freiheit nicht beschnitten werden darf.
Zum Beispiel bei einem rational nachvollziehbaren und von Expert*innen bestätigten Tempolimit oder emotionalisierten Themen, wie die Reduzierung von Fleisch, die damit abgelehnt werden, dass sie die individuelle Freiheit beschneiden. Völlig unabhängig davon, welche gesamtgesellschaftliche Konsequenzen daraus resultieren. Wir sprechen hier ja nicht nur über das Klima, sondern auch über Verkehrstote, über Gesundheitskosten, über Grundwasserschutz und vieles mehr.
Ja, es wird sogar Friday For Futur vorgeworfen, in unsere jetzige Konsumgesellschaft hineingeborenen zu sein und die Vorteile wie Smartphone und Playstation zu genießen. Diese Argumentationsweise ist ebenso selbstgerecht, weil sie von gesellschaftlicher Verantwortung entkoppelt nur dem eigenen Interessen dient.
Jean-Jacques Rousseau sieht die Gerechtigkeit durch einen Gesellschaftsvertrag gesichert. Dieser horizontale Gesellschaftsvertrag muss heute um einen vertikalen Gesellschaftsvertrag ergänzt werden, einem echten Generationenvertrag.
Denn nicht nur eine geschlossene Schere zwischen Arm und Reich stellt Gerechtigkeit her und garantiert Freiheit und Gleichheit für alle Menschen. Nein, auch die Übergabe einer lebenswerten, bewohnbaren Welt von einer Generation zur nächsten gehört zu einer echten Gerechtigkeit dazu.
Die Nachhaltigkeitsziele der UN, die SDGs, sind ein solcher Gesellschaftsvertrag, den wir 2016 mit fast allen Ländern dieses Planeten geschlossen haben. Aber auch die nationale Nachhaltigkeitsziele gehören dazu. Sie sind der Ausdruck unseres jahrtausende Jahre alten Strebens nach einer gerechten Gesellschaft.
Jedoch ernsthaft verfolgen tun wir diese Verpflichtungen nicht wirklich. Bei aller Dringlichkeit.
Schaut man sich die SDGs an, dann erkennt man die große Aufgabe, die hinter ihnen steckt. Es braucht eine große Transformation oder einen großen Mindshift, wie Maja Göpel es nennt, um die darin enthaltenden Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Denn vor allem unsere Wirtschaft ist auf das exorbitante Verbrauchen von globalen Ressourcen, der Natur und auch gesellschaftlicher Errungenschaften ausgerichtet.
Alle Pläne für diese große Transformation sind längst geschrieben, alle Wege erforscht, alles ausdiskutiert, nur an der Umsetzung hapert es. Am Willen.
Der Grund ist, dass dieses ideelle Streben nach Gerechtigkeit in unserem alltäglichen Diskurs fast vollkommen verloren gegangen ist. Wir können sagen, die Gerechtigkeit hat keine Praxis mehr. Die Selbstgerechtigkeit um so mehr.
Was also müssen wir 2020 in Kiel, in Schleswig-Holstein, in Deutschland und der Welt tun, um die große Transformation einzuleiten? Um den Generationenvertrag zu erfüllen?
Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann sagt, dass Gesellschaften aus nichts anderem bestehen als aus Kommunikation. Wer Gesellschaften verändern will, der muss also einen Impuls in die Gesellschaft geben, damit sich der Diskurs verändert.
Wir kennen das von uns selbst. Sobald wir anfangen, durch ein Problem die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, beginnen wir auch, unser Verhalten zu verändern.
Und das ist der entscheidende Punkt. Veränderung funktioniert nämlich nur dann, wenn wir eine andere Haltung einnehmen. Denn sonst wird oft das Gegenteil dabei heraus. Nur weil Geräte immer energieeffizienter werden, heißt es nicht, dass auch Strom gespart wird. Wir verbrauchen sogar mehr. Auch Windkraftgegner*innen gehören zu diesem Phänomen. Grundsätzlich wird die Energiewende als sinnvoll erachtet, aber die entsprechende Haltung dazu ist noch nicht entwickelt.
Was wir also brauchen, ist eine Veränderung der Haltung.
Der große Schlüssel, um Akzeptanz für Veränderung zu erzeugen, liegt also im Diskurswechsel. Und genau das ist das, auf das sich Politik, Medien, Wirtschaft und alle weiteren wichtigen Multiplikatoren im Jahr 2020 konzentrieren müssen. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken a) die Probleme zu benennen und b) die bereits ausgearbeiteten Lösungswege mit aller Konsequenz umzusetzen, frei von parteipolitischen Ideologien oder dem Durchsetzen von Eigeninteressen.
Wie verkorkst die Situation im Moment ist, möchte ich an einem Beispiel illustrieren.
Über Weihnachten war ich Zeuge eines Familiengesprächs, in dem Eltern mit ihren erwachsenen Kindern diskutierten, warum es unmöglich sei auf den SUV, die Flugreisen und das Fleisch zu verzichten. Einen Moment später wurde dann die Tochter gefragt, wann denn die Enkelkinder kämen.
Es wird versucht, die Normalität aufrecht zu erhalten.
In Australien brennt der Busch, das Dschungelcamp und die Australien Open finden trotzdem statt. Wir diskutieren über neue Mobilität und VW will den Anteil an SUVs bis 2025 in Europa auf 50 und den USA sogar auf 70 Prozent steigern. Bei VW kann ich mir das nur erklären, dass trotz zunehmender Naturkatastrophen ein Gefühl vermittelt werden soll, dass die Welt ganz normal weiter laufen wird, mit dem Ziel, im heute und jetzt letzte Gewinne abzuschöpfen. Wirtschaftlich vielleicht rational, aber für die Veränderung des öffentlichen Diskurses nicht besonders hilfreich.
Aber es bewegt sich auch etwas. Bis 2018 war die FAZ eher eine Klimawandel-Relativiererin. Ich war überrascht, als 2019 plötzlich Artikel über die Dringlichkeit der Klimakrise dort auftauchten. Auch für andere Bereiche gilt das. Plötzlich kommen solche Warnungen auch aus der Schwerindustrie, von McKinsey und anderen. Das sind ganz wesentliche und wertvolle Impulse für einen Diskurswechsel. Denn ganz ehrlich, es sind nicht die Grünen, die diejenigen erreichen, die jetzt noch an der Klimakrise zweifeln,
es sind die CDU, die FDP, auch die SPD, die die wichtigen Multiplikatoren sind, um eine ernsthafte Debatte für eine wirkungsvolle Umsetzung des Klimaschutzes zu erreichen.
Daher muss Schluss sein mit Signalen aus der Politik, die nur darauf abzielen, die Bevölkerung zu beruhigen. Klimapäckchen, ein Einknicken vor Windkraftgegner*innen
und ein viel zu später Kohleaustieg sind die falschen Signale, weil sie nicht auf die Veränderung des Diskurses einzahlen.
Da kann die EU noch so oft den Klimanotstand ausrufen, die Bundesregierung müsste es eigentlich tun und zeigen: Ja, wir haben ein Problem und ja wir packen gemeinsam dieses Problem an, unabhängig von Parteiprogrammen, Wählerklientel und irgendwelchen Eigeninteressen.
Politik, Medien, Wirtschaft und Prominenz sind wesentliche Faktoren für den großen Mindshift, für die Akzeptanz der Veränderung dieser wichtigen Transformation unserer Gesellschaft.
Denn zur Erinnerung. Wenn wir so weitermachen, wie bisher, dann wird nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bereits in 20 Jahren unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem anfangen zu kollabieren. Kein Mensch kann behaupten, dass er*sie das nicht miterleben wird. Und kein Mensch kann so unverantwortlich gegenüber den eigenen Kindern sein.
Unsere Kultur basiert auf der Aufklärung. Daher wissen wir, dass die Wissenschaft kein Glaube und keine Meinungsäußerung ist. Unsere Wissenschaft ist tief besorgt, weil sie weiß, was kommen wird und sie ist frustriert, weil niemand angemessen reagiert. Wir halten uns für eine aufgeklärte und intelligente Gesellschaft, dann sollten wir der Wissenschaft vertrauen und handeln.
Damit wir am Ende nicht archäologisch als die Zivilisation der Menschenaffen gelten, die im Zeitalter der Dummheit untergegangen ist.
Gerechtigkeit ist das höchste Gut unserer Gesellschaft. Sie garantiert Freiheit und Gleichheit.
Nicht das Ideal ist gerecht, die Natur oder Gott, sondern der Mensch ist es, der gerecht sein muss, auch gegenüber nachfolgenden Generationen.