Deutschland schaltet ab: Der Atomausstieg und die Folgen
ARD Story vom 15.04.2023 – Eine Produktion von NDR und BR
Die effektive Ausübung der Qualitätssicherung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemäß den Bestimmungen des Medienstaatsvertrags erfordert eine bessere Unterstützung der ehrenamtlichen Rundfunkräte. Ein aktuelles Beispiel aus dem Programmausschuss des NDR verdeutlicht die Bedeutung dieser Unterstützung. Denn dieser hat sich im Mai und Juni 2023 damit beschäftigt, ob der Beitrag ARD-Story “Deutschland schaltet ab: Der Atomausstieg und die Folgen” den Qualitätskriterien des ÖRR entspricht. Bereits im Vorfeld hatte der Volksverpetzer einen Artikel zu diesem Film veröffentlicht, der zwar überspitzt geschrieben ist, aber dennoch einige Kritikpunkte gut zusammenfasst. Ich habe die ARD-Story einer genaueren Analyse unterzogen.
Was war passiert?
In der Reportage ARD Story “Deutschland schaltet ab: Der Atomausstieg und die Folgen” geht ein Team aus Journalist:innen des NDRs und des BRs der These nach, ob der Atomausstieg Deutschlands ein Irrweg ist und wie andere Länder in Europa mit der Atomkraft umgehen. Der Film greift Punkte auf, die im Zuge der Energiewende verändert werden müssen, er verdeutlicht sie aber nicht und nennt die vorhandenen Lösungen, sondern setzt sie als Argumente für die Atomkraft ein. Zudem wird die Atomkraft immer wieder als saubere Energiequelle beschrieben. Besonders die Endlager-Frage wird nicht als Problem dargestellt.
Um es vorweg zu nehmen. Die Kritik des Volksverpetzers, dass der Film vor allem mit Polemik arbeitet, ist durchaus berechtigt. Es ist aber nicht das einzige Mittel, mit dem der Beitrag versucht, die Atomkraft als einzig vernünftigen Weg darzustellen. Mir ist nicht klar, wo der Film ausgewogen und sachgerecht sein soll, denn er arbeitet vor allem mit Suggestionen, Emotionalisierung und Andeutungen und eben nicht mit der Darstellung der Faktenlage. Eine Einordnung der Aussagen ist auf weiter Flur kaum zu finden.
Meinungsjournalismus im ÖRR?
Möglicherweise versucht sich der NDR/BR aber auch am Thesenjournalismus. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen solchen Ansatz wirklich verfolgen sollte. Angesichts der gegenwärtigen polarisierten Gesellschaft ist es kontraproduktiv, Beiträge zu präsentieren, die lediglich provokante Thesen aufstellen, ohne den Anspruch zu haben, aufzuklären. Solche Beiträge verfehlen deutlich das Ziel, einen sinnvollen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs zu leisten. Dies ist zudem besonders problematisch, wenn es um komplexe Themen geht, die nicht von allen Menschen in ihrer Tiefe verstanden werden und noch dazu hohe politische Relevanz haben. Gerade in diesen Fällen ist es von großer Bedeutung, relevante Sachverhalte transparent zu erklären und einen möglichst differenzierten Blick auf die Situation zu werfen.
Nicht zuletzt zeigt sich hier, wie leicht PR-Botschaften und PR-Narrative etabliert werden können, wenn die Lage komplex ist und Menschen entsprechendes Wissen mitbringen müssen, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Das gilt zum Beispiel für Energiethemen, bei denen sowohl technisches als auch organisatorisches Wissen (z.B. wie entsteht der Strompreis) mitgebracht werden muss. Aber auch die Methoden, wie ein solcher Beitrag seine Thesen erzählt und vertritt, müssen analysiert werden. Darum müssen Rundfunkräte hier besser geschult und bei fachfremden Themen von Expert:innen unterstützt werden.
Im Programmauschuss vom 2. Mai 2023 wird der Beitrag kritisiert. Der NDR weist die Vorwürfe zurück.
Im Programmausschuss am 13. Juni 2023 kam es erneut zu einer längeren Debatte, in der der Ausschuss seine Kritik noch einmal bekräftigte und protokollieren ließ. Auch hier wies der NDR die Vorwürfe zurück.
Kommen wir jetzt zur Reportage selbst.
Warum ist die Reportage “Deutschland schaltet ab” unausgewogen?
Ich schreibe diesen Beitrag auch, um exemplarisch zu zeigen, wie wichtig Medienkompetenz ist. Ich gehe hier auch der Frage nach, ob der Beitrag zur Meinungsbildung beitragen kann oder doch eher eine bestimmte Meinung befördern will.
An dem Beitrag des NDR/BR habe ich zusammengefasst folgende Kritikpunkte:
- Es werden Suggestivfragen gestellt
- Fakten werden miteinander vermischt
- Gängige Vorurteile werden (oft unterschwellig) bedient
- Sachverhalte werden teilweise nur angedeutet
- Wesentliche Informationen zur Einordnung werden weggelassen bzw. nicht erklärt
- Es wird auffällig oft emotionalisiert (Mitleid und Ängste geschürt)
- Fakten, die die These stützen, werden überdeutlich dargestellt; gegenteilige Informationen werden höchstens genannt, aber nicht weiter problematisiert bzw. beleuchtet
- Es kommen Personen zu Wort, die unter Verdacht stehen, verdeckt Lobbyarbeit für die Atomindustrie zu machen
Meinungsautorität und Andeutungen
Wie ich oben erwähnt habe, ist es leicht, einen bestimmten Eindruck über ein Thema zu vermitteln, wenn weitergehende Hintergrundinformationen notwendig sind, um sich als Publikum eine sachgerechte Meinung zu bilden. Dieser Umstand lädt geradezu dazu ein, Menschen mit Fachbegriffen zu erschlagen, Fakten zu vermischen und im Allgemeinen mit der Überbetonung der gesellschaftlichen Positionen der Interviewten (hier Minister:innen, Professor:innen) eine gewisse Meinungsautorität aufzubauen.
Noch schlimmer ist es, wenn dann die Sachverhalte nicht einmal erklärt werden, obwohl die Öffentlich-Rechtlichen einen Bildungsauftrag haben. Stattdessen bestehen die Antworten in der vorliegenden Reportage aus Andeutungen und weiteren Thesen, die nicht zur Wissensbildung der Zuschauenden beitragen. Damit erzeugt ein solcher Beitrag beim Zuschauenden eher das unwohle Gefühl, zu wenig über das Thema zu wissen, so dass er:sie offener ist, den Personen im Film unkritisch zu glauben, auch weil diese höhere gesellschaftliche Positionen einnehmen. Ein netter PR-Trick, der besonders gern von Lobbyvereinen genutzt wird (man erinnere sich an Lungenärzte und Co).
Allein an diesem Umstand kann man gut erkennen, wie groß die Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist, Themen wie Technik, Wirtschaft, Medizin und Sozialwissenschaften (z.B. in Bezug auf Migration oder Arbeitslosigkeit) gut zu erklären und sachgerecht darzustellen.
Umgang mit den Fakten
Endlagerfrage unterbelichtet
Schon beim ersten Sichten fällt auf, dass wesentliche Kritikpunkte an der Atomkraft im Film einfach weggelassen oder nur unterbelichtet dargestellt werden. So wird zwar genannt, wie teuer das Atomkraftwerk in Finnland ist und es zu wesentlichen Bauverzögerungen kam, genauso, dass es 2022 Probleme mit den Kühlwasserrohren einer bestimmten Baureihe in Frankreich kam, jedoch gibt es keine kritische Einordnung dieser Fakten. Die Probleme, die durch die Klimakrise z.B. durch Dürre ausgelöst werden, wird einfach gar nicht genannt, ein Punkt, der bei zunehmender Erderwärmung in jedem Fall Niederschlag in die Überlegungen über Atomkraft finden sollte, wenn gewollt ist, dass sich die Zuschauenden eine fundierte Meinung bilden können. Noch eklatanter ist, dass die Endlagerfrage sowohl in Deutschland als auch in den gezeigten Ländern Frankreich, Schweden und Großbritannien fast komplett ausgelassen wird. Stattdessen wird das einzige Land auf der Welt, das möglicherweise eine Lösung für das Endlagerproblem gefunden hat, als Beispiel gezeigt.
Dies gilt z.B. auch für den Auftritt einer Atomkraft-Aktivistin, die das im Bau befindliche AKW in Hinkley Point (GB) besucht und vom Filmteam begleitet wird. Der Sprecher des Beitrags erklärt, dass sich die Aktivistin über die Umweltschützer:innen ärgere, obwohl das neue AKW viel sicherer wäre als andere. Eine geschickte Ablenkung, denn der wichtigere Punkt wird dabei weggelassen, nämlich dass sich die Umweltbedenken vor allem auf den Atommüll beziehen. Natürlich kann die Aktivistin diese Meinung vertreten, das ist ihr gutes Recht. Aber in einem journalistischen Beitrag sollte die Aussage, die hier auch noch paraphrasiert wird, nicht einfach stehen gelassen werden. Zumal vorher mehrmals die Sicherheit des Kraftwerks betont wird, aber nie auf die Endlagerfrage eingegangen wird. Fast wirkt es so, als wolle der Beitrag am Rand der Einseitigkeit balancieren, um sich im Zweifel – z.B. in einem Faktencheck – herausreden zu können.
Zeitfaktoren weglassen
Ähnlich agiert der Film, als er einen deutschen Atomphysiker in England besucht, der – hochdramatisch (Zitat: “selbstgewähltes Exil”) – 2015 Deutschland verlassen hat, nachdem der Atomausstieg beschlossen worden war. Der Mann stellt seine Arbeit vor und zeigt eine Möglichkeit auf, wie aus Atommüll Energie gewonnen werden könnte. Er selbst nennt es richtigerweise Grundlagenforschung. Der Film lässt aber unerwähnt, was Grundlagenforschung bedeutet, nämlich dass die Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckt und es Jahrzehnte dauern wird, bis so ein Reaktor regulär ans Netz geht (wenn überhaupt). Im Grunde erstmal nicht schlimm. Da aber der gesamte Beitrag die These vertritt, dass die Atomkraft beim Klimaschutz helfen würde, spielt der Faktor Zeit eine gewaltige Rolle und darf gar nicht weggelassen werden, wenn die Aussagen der interviewten Personen die These stützen sollen. Daher liegt der Verdacht nahe, dass der Film hier versucht, die lästige Endlagerfrage loszuwerden.
Bestehende Lösungen vergessen
Besonders eklatant wird die löchrige Darstellung der Fakten jedoch, wenn es um die Stabilität der Stromnetze geht. Hier werden gleich mehrere Dinge durcheinandergeworfen. Da ich einige Bekannte habe, die bei Netzbetreibern arbeiten, kam es an dieser Stelle meiner Prüfung zu einer lustigen Anekdote. Am Ende des Beitrags wird der Sprecher eines Aluminiumwerkes gefragt, welche Auswirkungen die Dunkelflaute der Erneuerbaren Energien auf die Öfen hätte. Die These, die hier belegt werden soll, lautet, dass AKW notwendig wären, weil man in der Industrie immer Grundlast benötige. Ich frage also meinen Spezialisten, ob das wirklich ein Problem für Aluminiumwerke wäre und er schickt mir einen Artikel über ein Aluminiumwerk in Deutschland, das längst Öfen betreibt, die die Wärme halten, wenn mal der Strom ausfällt. Es kommt aber noch besser. Denn als ich die Namen der Unternehmen vergleiche, muss ich feststellen, dass es sich um das gleiche Unternehmen handelt wie im Film. Jedoch erwähnt der Sprecher des Werkes in der ARD-Story mit keinem Wort, dass das Unternehmen längst eine Lösung für das Problem entwickelt hat. Stattdessen sagt er:
“Wenn der Strom ausbleibt, dann friert alles ein. Und dann ist nachher eine ganze Produktion eingefroren. Und um das wieder zu starten, brauchen sie etwa ein Jahr. Sie müssen wirklich alle Öfen ausbrechen und alles neu wieder aufbauen. Und damit ist einmal komplett eine ganze Produktion verloren. Das ist eben nicht wie ein Band, wo sie einfach anschalten und ausschalten können.”
Bei der Recherche finde ich zudem einen weiteren interessanten Fakt. Denn Aluminiumwerke sind schon lange Teil der sogenannten Lastabschaltung, d.h. sie haben sich freiwillig dazu verpflichtet, dass ihnen ohne Vorwarnung der Strom abgestellt werden kann, sobald die Netze stabilisiert werden müssen. Das Unternehmen erhält dafür eine Entschädigung. Es handelt sich also um gängige Praxis.
Natürlich ist es legitim, die Volatilität der Erneuerbaren Energien zu thematisieren, denn sie zwingen uns in Deutschland zu einem Umdenken. Jedoch einfach die vorhandenen Lösungen wegzulassen, um als Gegenmittel die Atomkraft ins Spiel zu bringen, ist nicht ausgewogen, sondern eine verzerrte Darstellung der Tatsachen.
Einordnung in aktuelle Entwicklungen weggelassen
Ebenfalls wird im Beitrag erklärt, dass der Strompreis 2022 sehr hoch war und das Aluminiumwerk deshalb Öfen abschalten musste. Eine Einordnung zur Gaskrise 2022 und die Probleme mit der Merit-Order findet nicht statt. Auch nicht, dass Spekulationen und wirtschaftliche Interessen der OPEC die Energiepreise seit 2021 nach oben getrieben haben. Zusammengefasst kann man sagen, dass es sich um ein politisches Problem und nicht, wie dargestellt, um ein Problem der Erneuerbaren Energien handelt. Auffällig ist auch, dass die Preise für Strom aus Erneuerbaren und Atomstrom nie genannt oder gar verglichen werden. Auch nicht, wie der Strompreis zusammengesetzt ist. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Erneuerbaren grundsätzlich viel teurer wären als der Atomstrom, was nicht den Tatsachen entspricht. Atomstrom ist weitaus teurer als Sonne und Wind, vor allem, wenn die Folgekosten (Endlager, Versicherung, Investitionen usw.) mit eingerechnet werden.
Vorurteile gegen Erneuerbare Energien bemüht
Auffällig ist, dass immer wieder Vorurteile gegen die Erneuerbaren bemüht werden, um die Thesen zu stützen. Aus der Psychologie und der Kommunikationsforschung wissen wir, dass Menschen Aussagen eher Glauben schenken, die ihrem eigenen Weltbild und damit den eigenen Vorurteilen entsprechen. Dies wird durch Mechanismen unseres Gehirns ausgelöst, die als kognitive Verzerrungen bekannt sind. Daher bemüht sich die PR und vor allem die Propaganda (wie zum Beispiel in Russland) gängiger Vorurteile, um ihre Position zu verdeutlichen, im letzteren Fall meist zum Leidwesen marginalisierter Gruppen.
Der Beitrag geht auf die Volatilität der Erneuerbaren Energien ein, die bei Menschen Sorgen vor Stromausfällen auslösen kann und versucht dann die These zu etablieren, dass es Grundlast bräuchte und nur die Atomkraft diese liefern kann. So wird auch ein Spezialist für Hochspannungsleitungen mit den Worten eingeleitet:
“Wir sind zurück in Deutschland. Ein Grundproblem konnte auch 20 Jahre nach der Energiewende nicht gelöst werden. Wenn kein Wind weht und keine Sonne scheint, kommt kein oder nur sehr wenig Strom aus den Erneuerbaren Energien. Die traurige Realität der sogenannten Dunkelflaute. Das Problem würde sich auch bei einer Verdreifachung der Anlagen nicht wesentlich ändern. Professor Harald Schwarz ist Spezialist für Hochspannungsleitungen und Energiesysteme. Mit seinen Studenten untersucht er die Stabilität im deutschen Stromnetz. Durch den Atomausstieg fehlt dem Netz immer mehr gesicherte Leistung. Kraftwerke, die man unabhängig vom Wetter betreiben kann. Und selbst wenn die Erneuerbaren viel Energie produzieren, belasten sie die Stromnetze.”
Es gibt also nach 20 Jahren noch keine Lösung gegen die Dunkelflaute? Hier müsste selbst Professor Schwarz intervenieren, denn er selbst war es, der darauf hingewiesen hat, dass die Erneuerbaren Energien keinen Sinn machen, wenn der Strom nicht zwischengespeichert wird. Doch das ist nicht das, was der vorliegenden Film sagen will, also lässt er diese Information komplett weg, um die These aufrecht zu erhalten, dass das Stromnetz grundlastfähige Kraftwerke bräuchte und dafür nur die Atomkraftwerke in Frage kämen, weil ja alle anderen Kraftwerke CO2 produzieren.
Wissenslücken genutzt
Auch der Umstand, dass die Erneuerbaren gar nicht mit den Atomkraftwerken als Backup-Kraftwerke arbeiten können, wird weggelassen. Backup-Kraftwerke werden gebraucht, um im Falle einer längeren Dunkelflaute die Stromversorgung sicher zu stellen. Im Gegensatz zu anderen Kraftwerkstypen wie Gaskraftwerke, mögliche Wasserstoffkraftwerke, Wasserkraft usw. sind die meisten Kernkraftwerke leider diejenigen, die nicht schnell genug hoch und runter gefahren werden können, um die Volatilität der Erneuerbaren auszugleichen. Um es kurz zu machen: AKW sind auf Dauerbetrieb ausgelegt. Es gibt zwar einige Typen, die dazu in der Lage wären, diese sind aber weitaus teurer als andere Backups. AKW sind also nicht kompatibel mit den Erneuerbaren Energien.
Auch auf den CO2-Ausstoß von Backup-Kraftwerken kommt der Film immer wieder zurück, jedoch mit der Erzählung, dass ohne AKW die Kohlekraftwerke weiter laufen müssten. Hier nutzt man wieder die Gaskrise 2022 – ohne sie zu nennen natürlich – um zu behaupten, die Grünen hätten wieder Kohlekraftwerke angeschaltet, weil sie Atomkraft ablehnen, so die Erzählung. Als BackUp-Kraftwerke sind aber nicht Kohlekraftwerke, sondern Gas- und Wasserstoffkraftwerke geplant, wie sie Habeck in der Reportage – ohne journalistische Einordnung natürlich – nennt. Diese haben tatsächlich das Problem, dass sie bei Dunkelflaute CO2 ausstoßen würden. Daher empfehlen Expert:innen, die Nutzung dieser Backups möglichst klein zu halten und sie perspektivisch durch grüne Wasserstoffkraftwerke bzw. Biogas zu ersetzen. Zum Beispiel mit zusätzlichen Strategien, wie der besseren Vernetzung des europäischen Stromnetzes und dem Einsatz von digitalen Hilfsmitteln. Bei Flaute am einen Ende von Europa könnte dann mit Wind oder Sonne vom anderen Ende Europas ausgeholfen werden, um so einer Aktivierung der BackUps zuvor zu kommen.
Die wenigen Beispiele zeigen bereits, dass der Beitrag die Fakten so nutzt, wie sie in die aufgestellte These passen. Dabei wird die Unwissenheit und Unsicherheit der Zuschauenden über die Neuerungen der Erneuerbaren Energien genutzt, um den Eindruck zu vermitteln, ohne die Atomkraft sei Klimaneutralität nicht zu erreichen und die Stromnetze würden ohne Grundlast instabil werden.
Frage oder Meinung?
Die Suggestion ist das Handwerk des Magiers, nicht das von Journalist:innen. Sollte es jedenfalls nicht sein. Darum stellt sich für mich die Frage, wie es sein kann, dass die ARD Story “Deutschland schaltet ab” immer wieder Mittel nutzt, um einen bestimmten Eindruck zu suggerieren?
Will der Beitrag überhaupt seine These untersuchen?
Das beginnt schon mit der ersten Frage: “Ist Deutschland mit dem Atomausstieg auf einem Irrweg?” Diese Frage stellt die These des gesamten Beitrages dar. Wer am Anfang eines journalistischen Artikels eine Frage stellt, der sollte am Ende des Textes oder Filmes auch eine fundierte Antwort darauf geben. Diese lautet hier:
“Mit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland endet am 15. April, um 23.59 Uhr ein jahrzehntelanger, gesellschaftlicher Konflikt. Es endet aber auch die jahrzehntelange Produktion von klimafreundlichen Strom mit einem einfachen Knopfdruck. Viele werden sich darüber freuen. Andere können es bis heute nicht verstehen, warum es so weit kommen musste.”
Immerhin kann man sagen, dass der Autor des Films mit dem letzten Halbsatz “warum es so weit kommen musste” aufzeigt, dass er die ganze Zeit auf dieses Ergebnis hingearbeitet hat. Die Anfangsfrage hat aber auch noch eine andere Funktion. Da der Beitrag offenkundig darauf verzichtet, eine fundierte und ausgewogene Darstellung der Fakten zu präsentieren, ist die Frage “Ist Deutschland mit dem Atomausstieg auf einem Irrweg?” mehr als Aussage und weniger als Frage zu verstehen: Eine Suggestivfrage.
Frage drastisch verengt
An anderer Stelle wird eine weitere Frage gestellt: “Sind wir mit dem Atomausstieg in dieser konsequenten Form wirklich ganz allein?” Eine geschickte Frage, denn sie lässt völlig außen vor, dass es europäische Länder gibt, die Atomkraft ablehnen (wie Österreich, Irland, Italien) oder keinen Grund sehen, einzusteigen (wie Dänemark, Portugal, Island, Estland, Lettland, Litauen, Griechenland). Andere Länder wie Spanien, Belgien und die Schweiz sind von ihren Ausstiegsplänen noch nicht abgerückt. Wird natürlich nirgendwo erwähnt. Zudem ist die Frage so eng gestellt, dass sie nur auf Deutschland passen kann, weil andere Länder gar nicht aussteigen müssen, weil sie nie eingestiegen sind. Die Frage suggeriert damit, dass nur Deutschland die Atomkraft ablehne, was so nicht stimmt.
Dann wird es noch bunter, denn es wird gefragt: “Warum setzen europäische Länder weiter auf Atomkraft? Sind sie einfach sorgloser als wir?” Nach dieser Frage wird das einzige Land auf der Welt gezeigt, das ein Endlager hat: Finnland. Die Frage, ob andere Länder sorgloser wären, wird also damit beantwortet, dass das einzige Musterbeispiel für einen (hoffentlich) verantwortungsvollen Umgang mit der Atomkraft gezeigt wird und eben nicht die vielen Probleme mit AKWs und deren Müll in allen anderen Ländern. Damit wird suggeriert, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit der Atomkraft bestehe, der gar nicht besteht.
Interviewführung zugunsten gewünschter Antworten
Aber der Hammer ist wohl, dass ein Interviewpartner mit einer Aussage konfrontiert wird, die nicht stimmt. So wird der französische Wirtschaftsminister gefragt, was er davon hielte, dass die französischen AKW Schrottreaktoren genannt werden. Der Dialog sieht wie folgt aus:
Sprecher
“Was denkt er über die Kritik aus Deutschland über die französische Atompolitik?”
Bruno Le Maire
“Ich respektiere die souveränen Entscheidungen jedes einzelnen Staates. Jeder kann seinen Energiemix unabhängig wählen. Ich kritisiere also nicht die Wahl Deutschlands, ich würde das niemals tun. Aber im Gegenzug erwarte ich auch, dass Deutschland die französischen Entscheidungen, insbesondere die Wahl der Kernenergie, nicht kritisiert.”
Journalistin
“In Deutschland spricht man von französischen Schrottreaktoren. Was denken Sie darüber.”
Bruno Le Maire
“Ich denke, Schrottreaktor ist ein bisschen übertrieben. Die Realität sieht so aus, dass bei einer bestimmten Anzahl an Reaktoren technische Schwierigkeiten gegeben hat. Bei einem dutzend Reaktoren hatten wir Stress-Kurisonen bei einer bestimmten Anzahl von Reaktorleitungen. Wir haben die Probleme behoben und haben im Januar 2023 wieder so viel elektrische Leistung erreicht wie wir uns vorgenommen hatten.”
Dabei belässt es der NDR aber nicht, sondern bringt auch noch eine Pressemitteilung heraus, in der der französische Wirtschaftsminister empört den Vorwurf zurückweist. Überschrift: “Französischer Wirtschaftsminister verbittet sich Kritik an französischer Atompolitik” (Version vom 15.06.2023).
Das Problem an dieser Interviewführung ist, dass hier der französische Wirtschaftsminister mit einer Aussage konfrontiert wird, die so gar nicht stimmt. Das zeigt eine kurze Medienschau auf Google. Hier kommt der Begriff Schrottreaktor vorwiegend beim belgischen Kraftwerk Tihange und dem französischen AKW Fessenheim zum Einsatz. Eine generelle Bezeichnung der französischen AKW, so wie die Interviewerin es mit ihrer Frage suggeriert, lässt sich zumindest in den deutschsprachigen Medien nicht finden. Der Verdacht liegt nahe, dass hier versucht wurde, dem Minister eine Aussage in den Mund zu legen. Und warum bringt man dazu dann auch noch eine Pressemitteilung heraus? Zumal diese Meldung sich wie das Ergebnis eines diplomatischen Treffens liest, was es definitiv nicht war.
Emotionalisierung und Polemik
Aussagen stehen lassen
Stehengelassen werden auch die Aussagen der Interviewten, die zum Teil unsachlich, emotional und polemisch sind. Natürlich ist es vollkommen in Ordnung, die Gefühle der Befragten darzustellen. Doch die Häufigkeit, mit der diese Art von Aussagen im Film genutzt und dann nicht eingeordnet werden, ist auffällig. Es drängt sich der Verdacht auf, als wolle der Beitrag als Beleg für seine Thesen die Aussagen der Interviewten nutzen und sie als journalistische Recherche tarnen, um sich im Zweifel jeglicher Kritik entziehen zu können. So sprechen z.B. zwei Mitarbeiter aus dem Kernkraftwerk Isar 2 davon, dass Zitat:
“Die ist top in Schuss, die Anlage. Die ist ja, würde ich sagen, noch wie neu. Es ist ja immer alles repariert worden, alles ausgetauscht. Revision ist ja eine Revision, wo alles repariert wird und perfekt gewartet.”
Und sein Kollege am Ende des Films:
“Es läuft wunderbar. Die Technik ist zwar alt, aber zuverlässig. Und jetzt müssen wir sie auf den Schrott schmeißen, obwohl sie noch nicht kaputt ist und wunderbar läuft. Kaum Störungen haben. Das ist schon traurig.”
Hier wird versucht, über die beiden Profis aus dem Kernkraftwerk den Anschein zu erwecken, dass Isar 2 wie neu wäre und einfach weiterlaufen könne, wenn die Politik das wolle. Das ist aber nicht der Fall, denn das AKW ist technisch nicht mehr auf dem neuesten Stand und müsste erstmal für mehr als eine Milliarde Euro aufgerüstet werden, um auf dem Strommarkt wirtschaftlich arbeiten zu können. Aber das wird nirgendwo erwähnt. Stattdessen wird suggeriert, dass hier ein neues Kraftwerk auf den Müll geworfen werden würde und dieser Umstand irrational wäre.
Die geläuterten „Grünen“
Auffällig auch, dass immer wieder Personen auftauchen, die als “geläuterte Grüne” dargestellt werden. Dazu gehört eine Atomkraft-Aktivistin, die unter Verdacht steht, die Aktivisten-Gruppe Extinction Rebellion unterwandert zu haben und verdeckt für die Atomlobby zu arbeiten. Die finnischen Grünen werden fälschlicherweise als Parteifreunde von Bündnis 90 / Die Grünen bezeichnet, auch ein FDPler, der früher bei den Grünen war, wird gezeigt. Ebenso wird deutlich betont, wenn jemand Naturwissenschaftler ist, wie z.B. der Fraktionsvorsitzende der finnischen Grünen.
Halbgare Aussagen
Die Aussagen der Interviewten sind zum Teil polemisch und warnend. So erklärt die Atomkraft-Aktivistin:
“Deutschland ist sehenden Auges in diese Lage hineingegangen. Ihr wurdet seit Jahren gewarnt, dass die Energiewende nicht funktioniert und dass sie sehr teuer ist. Was passiert jetzt ab April? Ihr werdet immer Energie brauchen, aber sie muss sauber sein, damit nicht noch mehr Leute durch die Luftverschmutzung sterben. Es geht nicht um Erneuerbare gegen Atomkraft. Es geht nur darum, kein CO2 in die Luft zu blasen. Nur das zählt.”
Was sie mit der Warnung meint, bleibt außen vor. Wer hat wen gewarnt und warum? Und warum funktioniert die Energiewende angeblich nicht? Der Umstand, dass in Deutschland die Energiewende politisch verzögert wurde, bleibt außen vor. Es ist also eine steile These, von einem gescheiterten Versuch zu sprechen. Und warum sind Atommüll und mögliche Zwischenfälle nicht gesundheitsschädlich? Die Aktivistin stellt im weiteren Verlauf des Interviews zudem einen Zusammenhang zwischen den fehlenden Atomkraftwerken und der Steigerung der Kohleverstromung her, was der Film als Beleg für seine eigene These verkauft: Atomstrom sei für den Klimaschutz notwendig.
Hoch emotional schimpft ein ehemaliger Grüner und jetzt FDPler über die politischen Entscheidungen in Deutschland:
“Wir sind die Geisterfahrer. Wir sind die Geisterfahrer und das ist was typisch Deutsches. Wir meinen am deutschen Wesen soll die Welt genesen und keiner folgt uns.”
Er bemüht hier auch noch das allseits beliebte Bild, dass Deutschland angeblich immer einen Sonderweg gehen müsse. Ein Vorurteil genutzt? Jepp. Also Haken dran.
Und der Spezialist für Hochspannungsleitungen und Energiesysteme meint gar:
“Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals an den Punkt kommen, wo wir heute sind. Ich bin immer noch überrascht, dass wir das System immer noch stabil halten können. Also, wenn ich im Ausland vorstelle, so wie wir heute dastehen. Also egal, wo sie in der Welt hingehen, schütteln die mit dem Kopf und meinen: Sie wissen schon noch, wie elektrische Stromversorgung gemacht wird?”
Eine genaue Erklärung, worauf sich die Menschen aus dem Ausland beziehen und was er sich vor zehn Jahren nicht vorstellen konnte, bleibt aus. Auch das nachfolgende Interview bleibt vage. Es geht sogar weiter mit der Aussage des Sprechers:
“Deutschland kann jetzt schon seinen Strombedarf nicht an allen Tagen selbst decken, muss Atomstrom aus Frankreich oder schmutzig produzierten Kohlestrom aus Polen dazu kaufen. Für Schwarz ist klar, durch den Atomausstieg wird die Abhängigkeit von der Kohle noch größer.”
Hier wird suggeriert, dass Deutschland größere Mengen an Strom nicht selbst erzeugen würde und dass das ein Problem wäre. Da der gesamte Beitrag unerwähnt lässt, dass wir ein europäisches Stromnetz haben, erscheint die Aussage so, als wäre Deutschland vom Ausland abhängig. Dabei ist es genau andersherum. In Europa wird der Strom genutzt, der im Stromnetz (soweit die Gebiete vernetzt sind, Stichwort verzögerter Ausbau der Stromtrassen) am günstigsten produziert wird, weswegen regelmäßig Strom zwischen den europäischen Ländern ausgetauscht wird. Deutschland ist sogar eher ein Exporteur denn ein Importeur und musste 2022 Frankreich “aushelfen”, gerade weil viele ihrer AKW aus technischen und umwelttechnischen (Dürre) Gründen nicht funktionierten. Zudem spielt im deutschen Strommix der Kohlestrom aus Polen kaum eine Rolle (dieser ist 2022 sogar deutlich zurückgegangen). Da aber der Film schon eingeführt hatte, dass der dreckigste Strom aus diesem Land kommt, wird Polen explizit genannt, um zu suggerieren, dass wir extrem dreckigen Strom importiert hätten, was so nicht der Fall ist.
Dramatische Überspitzung
Und dann trägt der Spezialist für Hochspannungsleitungen richtig dick auf, indem er behauptet:
“Es kommt mir so vor, wir springen aus 10.000 Metern aus einem Flugzeug, ohne ein Konzept, ohne Fallschirm, aber mit viel Material und tollen Ideen. Und auf dem Weg nach unten, sie fliegen ja bis sie unten ankommen, diskutieren Sie, wie nähen Sie einen Fallschirm, versuchen Sie ihn nun so und so auszugestalten und argumentieren, bevor sie unten sind, ist der Fallschirm fertig. Das kann funktionieren, vielleicht ist er dann auch fertig, aber ich würde es trotzdem nicht ausprobieren wollen.”
Hier versucht man zu suggerieren, dass die Technik der Erneuerbaren Energien quasi noch in der Erforschung sei, was nicht der Fall ist. Die Energiewende ist mit aufwändigen Szenarien geplant, was bei einem solchen Mammutprojekt auch gar nicht anders ginge, da man z.B. zusätzliche Stromtrassen bauen muss. Zudem wird eine Metaphorik gewählt, die darauf abzielt, eine möglichst angstmachende Situation zu zeigen, denn niemand möchte ohne Fallschirm aus dem Flugzeug fallen oder – im Sinne der Narration des Beitrages – wäre so unvernünftig ohne Schirm zu springen.
Diese Art von Erzählung, bei der möglichst bildhaft versucht wird, Menschen von einer bestimmten Sachlage zu überzeugen, habe ich das letzte Mal in den Videos von Impfgegnern wie Bhakdi gesehen, der ähnlich argumentierte. So beschrieb er den Covid-Impfstoff wie ein Ding mit riesigen Stacheln, die quasi die Venen der Menschen zerfetzen würden und beendete seinen Satz mit: “Ist das nicht schrecklich.” Hier versucht der Interviewte offensichtlich Menschen gezielt anzusprechen, die für diese Art der Erzählung empfänglich sind. Etwas, was in einem Beitrag des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks nichts zu suchen hat. Das ist keine Meinungsäußerung, das ist Manipulation.
Fazit: Beitrag verzerrt die Faktenlage zugunsten seiner These
Ich bin mir sicher, dass noch viele weitere Punkte aus der Reportage herausgefiltert werden können. Ich möchte es aber bei den angeführten Punkten belassen, weil deutlich geworden ist, mit welchen Mitteln die ARD-Story “Deutschland schaltet ab” arbeitet und warum ich den Bericht für unausgewogen halte. Als Fazit kann ich sagen, dass der Beitrag die Darstellung der Fakten zugunsten seiner aufgestellten These verzerrt und somit den Zuschauenden die Möglichkeit nimmt, sich eine eigene Meinung zur Sachlage zu bilden.
Der Artikel zeigt, wie wichtig Medienkompetenz ist und wie ein Blick auf Details hilft, Berichte als unsachlich zu entlarven. Er zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk gerade bei komplexen und komplizierten Themen auch Laien mitnimmt, um eine sachgerechte und damit demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen.
Wir haben eine Medienkrise, die sich deutlich auf die demokratischen Entscheidungsprozesse auswirkt. Diese Medienkrise geht inzwischen sogar soweit, dass bewusst Lügen verbreitet werden (Heizungsverbot), um politische Kämpfe für sich zu gewinnen. Wenn wir nicht wollen, dass diese Medienkrise sich zu einer Krise der Demokratie ausweitet, dann muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit sachgerechtem Journalismus dagegen halten. Denn in einer Welt, in der jeder zu seiner Meinung und seinen Vorurteilen den passenden Artikel finden kann, muss der ÖRR der Ort sein, an dem gesicherte Fakten und Darstellungen der Sachlage erhältlich sind, die dann im Kampf gegen Fakenews, Desinformationen und Mythenbildung im eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis eingesetzt werden können. Deshalb kann sich der NDR journalistische Beiträge wie den Vorliegenden nicht leisten. Das Ende der Demokratie wird damit eingeleitet, dass Faktum und Meinung als das Gleiche dargestellt werden. Über den Umstand, dass 1 + 1 gleich 2 ist, gibt es einfach keine zwei Meinungen. Daher muss es der Anspruch von Journalismus sein, dass zwar Meinungen genannt werden, aber auch immer die Faktengrundlage als unverrückbar dargestellt wird.
Foto von Vladyslav Cherkasenko auf Unsplash